Anna Scheuermann: Angekommen in Offenbach
Ein Gespräch über Heimat und Architektur
Meine heutige Verabredung hat mich ins Offenbacher Nordend geführt. Wie so oft, bin ich etwas zu früh dran, um bereits vor dem Interview ein paar Bilder zu machen und die Stimmung aus dem Viertel einzufangen. Mein neuer Beitrag befasst sich mit Architektur und dem Ankommen in einer fremden Stadt oder gar in einem völlig fremden Land. Damit, sich nieder zu lassen und eine neue Heimat zu finden. Das Heimatgefühl und diese tiefe Verbundenheit mit einem solchen Ort, schlummert in jedem von uns. Bei dem einen sicherlich etwas ausgeprägter als bei dem anderen, aber jeder weiß wohl, was ich damit meine. Offenbach ist seit jeher eine solche Stadt um anzukommen. Eine Arrival City und damit prädestiniert heute besprochen zu werden. Nicht umsonst sind in Offenbach mehr Nationalitäten vertreten, als in jeder anderen deutschen Großstadt. Jemand, der sich ganz besonders gut auf diesem Gebiet auskennt, ist heute an meiner Seite und begleitet mich, an einem der letzten warmen Sommertage, auf meinem Streifzug durch die Stadt. Die Rede ist von Anna Scheuermann. Anna ist Architektin, Buchautorin, Kuratorin sowie selfmade Offenbach-Expertin. Und als wäre das alles noch nicht genug, managt sie, parallel mit ihrem Mann, zwei Kinder durch den Tag und ist im Allgemeinen wohl lieber auf mehreren Baustellen engagiert, als einfach mal die Füße still zu halten.
Anna und ich kennen uns jetzt knapp 2 Jahre. Unsere Bekanntschaft geht auf eine Email Anfrage zurück. Jetzt nicht Parship, Elite Partner oder eine andere Plattform, auf der man sich heutzutage durch swipen, liken oder stupsen kennenlernt. Nein, ganz altmodisch via Email: „Sie haben Post!“ Anna war gerade als Autorin auf der Suche nach Illustrationen für den Architekturführer Metropolregion Frankfurt Rhein-Main im DOM publishers Verlag, für den sie auf meiner Homepage ein paar Bilder entdeckt hatte und mit denen ich ihr bei der Realisierung ihres Buchprojekts unter die Arme greifen konnte. Dazu aber später mehr. Seitdem laufen wir uns immer mal wieder bei ganz unterschiedlichen Gelegenheiten über den Weg, plaudern kurz und verfolgen unser Schaffen natürlich gegenseitig in den sozialen Medien. Wofür hat man schließlich sein Netzwerk? Ganz ohne Likes geht es dann eben doch nicht!
Während wir so durch das Nordend schlendern, vorbei an Häuserfassaden und Ladenzeilen, gewährt mir Anna erste Einblicke in ihren Job und ich erfahre was Architektur grundsätzlich für sie bedeutet. Architektur ist für Anna der rote Faden, der sich durch ihre Vita zieht und alle Projekte zusammenhält. Bei ihrer Arbeit als Architektin geht es ihr allerdings nicht klassisch um die Bauausführung oder darum, etwa einen Gebäudeentwurf auf Papier zu bringen, obwohl sie das in ihrem Studium an der TU Darmstadt natürlich gelernt hat. Architektur ist für sie viel mehr die gesamte gebaute Umwelt, in der wir uns täglich bewegen. „Ich habe gelernt, Architektur allumfänglich zu betrachten. Ich beschäftige mich vor dem ersten Spatenstich mit allen möglichen Eventualitäten, Entwürfen und Konzepten, die man bis dahin bedenken sollte. Mir ist es besonders wichtig, vorher abzuklären, ob ein Gebäude wirklich abgerissen werden muss, oder ob man es nicht besser durch bauliche Maßnahmen umnutzen könnte. Nur wenn ein altes Gebäude oder Mauerwerk erhalten bleibt, kann sich der Charme vergangener Tage mit dem neuen Konzept vereinen. Ich probiere die wirklich richtige und passende Idee zu finden, Architektur und Freiräume unter allen Gesichtspunkten optimal zu nutzen und in das Stadtbild einzubetten.“ Anna probiert bei ihrer Arbeit hinter die Fassade zu blicken, Geschichten zu hören und dadurch Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Räumlichkeiten noch besser genutzt werden können. Am ehesten könnte man ihren Job daher, wie sie selbst sagt, mit der Bezeichnung Architekturvermittlerin oder -kommunikatorin beschreiben. Witzelnd ziehe ich den Vergleich zu einem Makler, den sie – kaum habe ich ausgesprochen – energisch, allerdings mit einem Schmunzeln im Gesicht von sich weißt: „Von einem Makler bin ich meilenweit entfernt!“


Ebenfalls meilenweit entfernt war auch der deutsche Pavillon der 15. internationalen Architekturausstellung 2016 – La Biennale di Venezia, den sie zusammen mit Peter Cachola Schmal und Oliver Elser bespielt hat. Titel der Ausstellung und des gleichnamigen Buches lautet: „Making Heimat. Germany Arrival Country.“ Making Heimat kann man als Momentaufnahme aus dem Jahr 2016 verstehen, die sich mit den urbanen, architektonischen und sozialen Anforderungen von sogenannten Arrival Cities in Deutschland befasst. Wer den deutschen Pavillon in Venedig bespielen möchte, muss sich vorher mit einem aktuellen Thema bewerben, dass Deutschland zeitgemäß repräsentiert. Flüchtlingsströme und der Satz „Wir schaffen das!“ unserer zuversichtlichen Kanzlerin kamen im Herbst 2015 wie gerufen.



„Kaum hatten wir den Zuschlag in der Tasche, haben wir auch schon festgestellt, was das für ein ambitioniertes Unterfangen werden würde. Normalerweise hat man für so eine große Ausstellung mit ergänzender Publikation ein Zeitfenster von circa zwei Jahren,“ berichtet mir Anna. „Unter erschwerten Bedingungen mussten wir nun die komplette Organisation vor Ort in Venedig, den Umbau des Pavillons, die Recherche und letztendlich alles andere, was damit zusammenhängt, bis zur Premiere in einem halben Jahr auf die Beine stellen. Gott sei Dank hatten wir, sowohl in Italien als auch in Deutschland, viele helfende Hände, sonst hätten wir unser Projekt in so kurzer Zeit nicht realisieren können.
Making Heimat sollte zeigen, was mit Flüchtlingen bzw. mit Migranten im Allgemeinen passiert, die in Deutschland ankommen. Wie und wo sie leben, wie sie sich vernetzen und was für Konzepte und Räume dafür vorgesehen sind. Häufig zieht es Neuankömmlinge in den Großstädten in ausgewiesene Stadtviertel in denen das „Ankommen“ leichter fällt. In Berlin war so ein Viertel zum Beispiel Kreuzberg. Offenbach nimmt unter den vielen deutschen Ankunftsstädten eine Sonderrolle ein, denn hier ist die ganze Stadt als Arrival City zu betrachten. Niedrige Mieten und eine hohe Anzahl unterschiedlicher Kulturen sowie gleichgesinnter Landsleute, die einen bei den ersten Schritten und sprachlichen Barrieren in der fremden Stadt unter die Arme greifen, sind die Hauptgründe dafür. Kleine ethnische Geschäfte, religiöse Einrichtungen, Wechselstuben und die Chance auf erste kleine Aushilfsjobs im Stadtgebiet – manchmal auch illegaler Natur – runden das Angebot ab und machen diese Arbeiterviertel oder eben die Stadt Offenbach zu willkommenen Anlaufstellen. Klar gibt es auch häufig Streit und manchmal fliegen sogar die Fäuste, aber die meisten von ihnen werden trotzdem bleiben, die Umstände in Kauf nehmen und probieren, sich anzupassen und weiterzuentwickeln. Denn diese Widrigkeiten sind immer noch nichts im Vergleich mit den politischen Verhältnissen, die in ihren Herkunftsländern herrschen und die sich auch in absehbarer Zeit vor Ort nicht ändern werden.
Offenbach hat bereits seit den 60er Jahren diese Anziehungskraft (nicht nur auf unsere Gastarbeiter) und ist eben einfach lebens- und für viele inzwischen sogar liebenswert geworden! Auch Anna lebt mittlerweile mit ihrer Familie in der multikulturellen Stadt am Main. Kurz nach der Premierenfeier und der Ausstellungseröffnung auf der Biennale in Venedig, hat sie nämlich ihr ganz privates Making Heimat Projekt nach Offenbach geführt. Anna ist ehrlich. „Offenbach war für uns nicht immer die erste Wahl und wir wurden natürlich auch von einigen komisch angeschaut, aber die Mieten in Frankfurt sind für eine vierköpfige Familie einfach nicht zu bezahlen. Ein Dilemma unserer heutigen Zeit! Das Gesamtkonzept hat uns aber dennoch überzeugt. Schulen und Einkaufsmöglichkeiten ganz in der Nähe sowie andere Familien mit kleinen Kindern in der Nachbarschaft, haben uns die Entscheidung letztendlich leicht gemacht. Und nach nun mehr knapp vier Jahren, kann ich sagen, ist mir Offenbach richtig ans Herz gewachsen.“ Besonders das Nordend und der Wilhelmsplatz haben es ihr angetan. Für sie ist es diese ebenso bunte, wie lebendige Mischung die Offenbach so besonders macht. „Überall trifft man hier auf fremde Sprachen und entdeckt an vielen Ecken authentische Länderküche und Lebensmittel, die in mir Fernweh und Urlaubsstimmung zugleich wecken. Der Hinterhof von L’Abbate ist so ein Paradebeispiel für mich, dass es auf den Punkt bringt. Italienische Sprache und fremde Kultur, gepaart mit Handarbeit und Architektur. So kann gelebte Integration aussehen und davon brauchen wir noch viel mehr in Offenbach.“
Wenn man Anna so zuhört, erkennt man die von mir anfangs erwähnte Offenbach-Expertin wieder. Wen wundert es da, dass sich ihre vielen Erkundungstouren und alltäglichen Ausflüge in und durch die Stadt, inzwischen in dem Architekturführer der Metropolregion Frankfurt Rhein-Main manifestieren? Dieser ist Teil einer groß angelegten Bücher Serie, die bei DOM publishers erscheint und aktuell über 100 Bücher umfasst. Laut Website des Verlags sollen die unterschiedlichen Werke aufzeigen, dass die Architektur in einer Stadt für mehr steht, als die bloße Summe ihrer Sehenswürdigkeiten. Annas damalige Agentur für Architekturführungen im Rhein-Main-Gebiet ga Frankfurt, kurz für Guiding Architects Frankfurt Rhein-Main, die sie zusammen mit Andrea Schwappach und Paul-Martin Lied geführt hat, und die gleichzeitig zu dem weltweit größten Netzwerk für Architekturführungen (Guiding Architects) gehörte, hat sich für die Rhein-Main Ausgabe des Architekturführers beworben und diesen Job letztendlich auch bekommen. Bei der Recherche für den Architekturband konnte Anna dann gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und das Nützliche mit dem Notwendigen verbinden. „Da ich damals noch relativ neu in der Stadt war,“ erzählt sie, „habe ich nicht nur einfach Informationen für das Buch zusammengetragen, sondern gleichzeitig Offenbach im Schnelldurchgang kennengelernt.“ Für Anna sah das Ganze dann wie folgt aus: „Neben den typisch weltlichen Dingen, wie Kinder in die Schule bringen, Einkäufe erledigen, Freunde treffen und durch unser Viertel flanieren, habe ich viel Zeit im Stadtarchiv verbracht und in Büchern geblättert. Parallel dazu habe ich mindestens die doppelte Zeit im Internet recherchiert und mich gleichzeitig mit Betreibern von Geschäften und Cafés getroffen, Bilder und Illustrationen organisiert und mir natürlich für jede Abbildung die passende Freigabe eingeholt,“ berichtet Anna, während wir beide anfangen zu lachen. Schließlich haben wir uns auf diesem Weg kennengelernt. „Dann standen immer wieder Termine bei der Stadt und den Architekten an, um weitere Informationen heranzutragen und Freigaben für Texte zu organisieren. Ich kann dir sagen, das war nicht immer ein Zuckerschlecken.“ Die harte Arbeit hat sich allerdings gelohnt. Mit dem Architekturführer für die Metropolregion rund um Offenbach, ist es dem Team gelungen, den Spagat zu schaffen und fundierte Fakten für das Fachpublikum mit unterhaltsamen Themen für den Laien zu verbinden. Ich freue mich jedenfalls, dass ich einen kleinen Teil bei der Realisierung dieses Projekts beitragen konnte und wir uns dadurch kennengelernt haben.



Daran sieht man wieder wie viel Potenzial eigentlich in Offenbach steckt und wie gut man vor Ort noch Dinge realisieren kann. Für die Zukunft wünscht sich Anna, dass alte Plätze und Gebäude viel öfter mit neuem Leben und Konzepten gefüllt werden, anstatt immer gleich mit der Abrissbirne anzurücken. „Es wäre toll, wenn der industrielle Charme der leerstehenden Fabrikgebäude mit einer gewissen Tradition unserer Stadt erhalten bleiben und nicht wie die Kappus Seifenfabrik nach so vielen geschichtsträchtigen Jahren einem Neubau weichen müssen. Ich hoffe, ich kann da in Zukunft öfter einspringen, vermitteln und aufzeigen, was man aus solchen Schätzen alles machen kann. Wir haben schließlich eine reiche Handwerkstradition in Offenbach und die sollten wir erhalten!“ Parallel dazu entwickelt sich in Annas Kopf die Idee etwas zu erschaffen, dass anderen Menschen im Alltag weiterhilft. „Die Corona-Zeit hat in mir das Bedürfnis geweckt, etwas wirklich Sinnvolles und Gutes für andere zu tun. Ich habe da noch nichts konkretes, aber mir gefällt zum Beispiel der Gedanke, der hinter dem Konzept des „Kiezkaufhauses“ steckt. Das Kiezkaufhaus ist eine Online-Plattform aus Wiesbaden, auf der sich lokale Händler mit all ihren Produkten, Preisen und Öffnungszeiten präsentieren können. Der Kunde kann auf der Plattform von zuhause, zum Beispiel bei einem Lockdown oder in einer Quarantäne, wie gewohnt bei seinen Lieblingsgeschäften einkaufen und bekommt die Ware dann noch am gleichen Tag per Cargo-Bike geliefert. Das unterstützt nicht nur die lokalen Unternehmer und Gastronomen und führt sie in die Zukunft, sondern minimiert auch noch den Lieferverkehr in der Stadt sowie den zunehmenden CO2 Ausstoß.“

Es gibt also noch viele Möglichkeiten und Wege, Unternehmen und Bürgern etwas Gutes zu tun, wenn man nur mit offenen Augen durch die Stadt läuft. Schließlich ist man in Offenbach ganz schnell von der einen schönen Ecke bei der nächsten gelandet! Das Potential ist da und das haben nicht nur Anna und ich, sondern schon die allerersten Gastarbeiter erkannt! Ich wünsche Anna jedenfalls viel Erfolg bei ihren zukünftigen Projekten und sage Danke für das aufschlussreiche Gespräch.
Anna Scheuermann | Hafeninsel | 63067 Offenbach | Email: as@annascheuermann.de
Homepage | Instagram | Facebook | Architects For Future | Netzwerk Architekturkommunikation
1 Kommentar